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Sicherheit gegen Öffnung

Von Regierungsrätin Jacqueline Fehr, Vorsteherin der Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich

Europapolitik ist im Kern einfach: Die Bevölkerung sagt Ja zu einem neuen Vertragspaket mit der EU, wenn den Menschen daraus keine Nachteile erwachsen. Das bedeutet: Ohne sozialpolitische Absicherungen gibt es keine Mehrheit für den europapolitischen Fortschritt.

Endlich ist wieder Bewegung im Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU. Demnächst beginnen der Bundesrat und die EU-Kommission offiziell zu verhandeln. Es geht um ein Paket von neuen und erneuerten bilateralen Verträgen.

Damit ist zwar noch nichts gewonnen. Nach den europapolitisch komatösen letzten Jahren bin ich aber schon glücklich, dass wenigstens der Stillstand überwunden ist.

Nimmt man die Ergebnisse der Vorverhandlungen – soweit diese publik geworden sind – zum Massstab, so darf man bezüglich der Schlussresultate des Verhandlungsprozesses durchaus zuversichtlich sein. Die EU ist flexibler und konzilianter als es der Ruf vermuten lässt, den die Union in der Schweiz hat. Dass es um den Ruf nicht zum Besten steht, ist im übrigen nicht weiter erstaunlich. Dieser ist ja kein realistisches Abbild der Arbeit, welche die EU-Institutionen leisten, sondern vielmehr das Produkt von innenpolitischen Motiven und Kampagnen.

Mich stimmt es jedenfalls optimistisch, dass inzwischen beide Seiten, die Schweiz und die EU, den Grundsatz «Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» anerkennen. Positiv ist auch, dass die EU der Schweiz auf der Basis dieses Grundsatz’ eine «Non-Regression Clause» anbietet. Diese soll sicherstellen, dass der Lohnschutz nicht hinter das Erreichte zurückfällt.

Gleichzeitig ist allen klar: Es wird kein Verhandlungsergebnis geben, das alle unsere Wünsche erfüllt. Verhandlungen sind ein Geben und Nehmen. Wenn wir Teil des europäischen Binnenmarkts sein wollen, müssen wir uns an die Spielregeln halten, die dort gelten. Wir werden bei einigen Streitfragen Sonderregeln aushandeln können, werden aber bei anderen nachgeben müssen.

Alle Kräfte in diesem Land, die den europapolitischen Fortschritt wollen und die sich bewusst sind, wie immens wichtig ein neues Vertragspaket für unser Land und unsere Zukunft ist – alle diese Kräfte von links bis rechts tun deshalb gut daran, ihren Blick statt nach Brüssel nach Bern zu richten.

Denn ob wir ein solches Paket erreichen, haben wir in der eigenen Hand. Europapolitik ist zwar in den Details komplex und kompliziert. Im Kern ist sie aber einfach: Der Bundesrat verhandelt. Die Bevölkerung entscheidet. Sie sagt Ja, wenn den Menschen aus der Annäherung zu Europa keine Nachteile erwachsen.

Und dafür – für die Absicherung der Bevölkerung – müssen wir selber sorgen. Dabei ist bereits jetzt absehbar, dass wir Linken die treibende Kraft, aber auch die Ideengeberin einer solchen Absicherung werden sein müssen. Ein Vertragspaket mit der EU hat nur eine Chance, wenn es von einem Swisslex-Paket begleitet wird.

Die Linke muss hier Taktgeberin sein, weil die Wirtschaftsverbände noch immer nicht begriffen haben, dass sie sich bewegen müssen. Ja: müssen! Es geht nicht um die Frage, ob man flankierende Massnahmen gut oder schlecht findet, ob man solche will oder nicht will. Es ist – siehe oben – ganz einfach: Wenn wir ein neues Vertragspaket mit der EU durch die Volksabstimmung bringen wollen, gibt es keine Alternative zu einem wirkungsvollen, zuverlässigen Reformpaket.

Die Bevölkerung lässt sich auf Veränderungen ein, wenn sie dafür mehr Sicherheit bekommt. Diese Gleichung galt schon immer und gilt auch in Zukunft. Es gibt ein Ja zu mehr Öffnung und mehr Konkurrenz, wenn die Menschen die Gewissheit haben, dass nicht sie die Rechnung bezahlen – etwa beim Lohn oder bei den Chancen auf dem Stellenmarkt.

Wir brauchen also konkrete Antworten auf konkrete Fragen. Zum Beispiel: In welchen Branchen braucht es zusätzliche Mindestlöhne? Wo sind mehr allgemeinverbindliche Gesamtarbeitsverträge nötig? Mit welchen Massnahmen können wir die sinkende Kaufkraft kompensieren? Wie dämpfen wir über eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf den Fachkräftemangel? Und was machen wir mit den Menschen in der Schweiz, die sich an den Rand gedrängt und abgehängt fühlen?

Es ist der Auftrag an alle gestaltungswilligen Kräfte in unserem Land, sich diesen Fragen anzunehmen. Es führt kein Weg daran vorbei.

Unsere Wirtschaft, unsere Wissenschaft, unsere Kultur: Sie alle brauchen dringend ein stabiles, geregeltes Verhältnis mit der EU. Doch dieses stabile, geregelte Verhältnis kommt nicht von alleine. Es braucht einen Effort. Und es ist auch klar, welchen Effort: Über Jahrzehnte bestimmte das Bündnis zwischen Freisinn und Sozialdemokratie, zwischen Gewerbe und Gewerkschaften die Europapolitik der Schweiz. Sicherheit gegen Öffnung war der Deal. Wenn es neue Abkommen mit der EU geben soll, dann muss dieser Deal neu geschlossen werden. Ohne sozialpolitische Absicherungen gibt es keine Mehrheit für die europapolitische Öffnung.
Man kann diese Realität verdrängen. Man kann sie beklagen. Doch das hilft alles nicht weiter. Es sind ja nicht die Gewerkschaften oder die Wirtschaftsverbände, die die Stimmzettel ausfüllen. Es sind die Stimmbürger:innen. Und diese wollen die Versicherung, dass «mehr Europa» nicht zu ihren Lasten geht, sondern zu ihren Gunsten ist.

» Für die SP ist klar, dass ein gut ausgehandelter EU-Beitritt die beste Option bleibt. «
Mario Carera
» Weil wir alle grossen Herausforderungen unserer Zeit nur zusammen mit unseren befreundeten Nachbarn meistern können. «
Beat Jans
Bundesrat
» Solidarität ist der zentrale Begriff der Sozialdemokratie. Europäische Solidarität findet ihren konkreten Ausdruck im Staatenverbund der Europäischen Union. Deswegen muss der EU-Beitritt das Ziel der SP-Schweiz sein. «
Jonas Lüscher
Schriftsteller
» Beziehungen zur EU sind nicht nur wirtschaftlich, sondern auch gesellschaftlich. Die grossen Herausforderungen unserer Zeit können wir nur gemeinsam begegnen. «
Sara Wyss
Nationalrätin Basel-Stadt
» Die europäische Integration ist eine riesige Errungenschaft für alle Europäerinnen und Europäer und ein faszinierendes politisches Projekt: für die Freiheit, für den Frieden, für den Wohlstand. Bei diesem Projekt sollte auch die Schweiz mitwirken wollen. «
Jon Pult
Nationalrat Graubünden
» Die europäische Einigung hat unserem Kontinent Frieden, Sicherheit und Wohlstand gebracht. Die Schweiz soll sich daran beteiligen – aus Eigeninteresse und solidarischer Beitrag für die Menschen in Europa. «
Fabian Molina
Nationalrat Zürich