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Buchrezension

Europas eigener Weg - Gret Haller

Gret Haller: Europas eigener Weg
Politische Kultur in der Europäischen Union

Rotpunktverlag, Zürich, 2024


von Noah Sutter, Co-Präsident der SP EU Plattform

Mit Europas eigener Weg legt die frühere Nationalratspräsidentin, Diplomatin und Gründungspräsidentin der Vorgängerorganisation der SP EU Plattform ein Buch vor, welches in äusserst produktiver, wenn auch subtiler Weise, in den Diskurs zur europäischen Einheit eingreift. Anstatt bestehende (rechte) Narrative aufzugreifen und zu entkräften, schafft Haller ein neues. Anstatt die endlose Debatte darüber wo die EU sich auf der Achse zwischen Bundesstaat und Staatenbund verorten solle weiterzuführen, hebt sie diese Debatte quasi dialektisch auf. In Bezug auf die europäische Integration ist die proeuropäische Linke zu oft bereit die Narrative der Rechten unhinterfragt – lediglich mit umgekehrten Vorzeichen – zu übernehmen. Das „Europa der Vaterländer“ sei zum Glück von der Europäischen Union, einem Superstaat in nuce, aufgehoben worden. Gret Hallers Buch ist ein Beispiel dafür, dass es sich lohnt, intensiver über das Dreiecksverhältnis von Nationalstaat, Union und Individuum nachzudenken.

Im Jahr 2003, am 40. Jahrestag des Élysée Vertrags hielt der französische Philosoph Alain Badiou (2016) an einer gemeinsamen Veranstaltung des Goethe Instituts und der Alliance Française in Buenos Aires eine Rede in der er seinen Wunsch äusserte, Deutschland und Frankreich – ersteres neurotisch und beständig von der Frage nach der eigenen Identität heimgesucht, letzteres seiner selbst und seiner Geschichte so sicher, dass es in Behaglichkeit drohe zu verfaulen – sollten ineinander und in einer neuartigen Einheit, weder Nation noch Nicht-Nation, komplett aufgehen, sodass diese Eigenschaften miteinander fruchtbar ausgetauscht werden würden und so diesem Elend endlich ein Ende gesetzt werden könnte. Wer Gret Hallers neues Buch Europas eigener Weg liest, erhält das Gefühl, dass mit der Europäischen Union ein Teil dieses Badiou‘schen Wunsches in Erfüllung gegangen ist: Nämlich, dass die EU sei ein komplett neues institutionelles Gebilde, für das es in der Geschichte keine Vorbilder gebe, sei. Frankreich und Deutschland – und mit ihnen alle anderen europäischen Nationalstaaten – existieren jedoch noch immer. Und genau dies ist es, was Haller im Unterschied zu Badiou als den unentbehrlichen und wünschenswerten Kern der europäischen Einigung sieht.

Gret Hallers Buch setzt ein mit einer Rekapitulation der historischen Entwicklung jenes Dreigestirns, dessen Zusammenspiel für Haller entscheidend ist, um den europäischen Einigungsprozess zu verstehen. Dieses Dreigestirn besteht aus Individuum, Europäischer Union und Nationalstaat, der sich wiederum durch den Integrationsprozess zum Mitgliedsstaat wandelt. Die Französische Revolution ist hier Ausgangspunkt: Das Individuum wird aus Herkunftskategorien wie Familie, Verwandtschaft oder Dorf befreit. Wie im weiteren Verlauf des Buches gezeigt wird, ist es dieses Individuum, das die europäische Integration als Akteur*in prägen wird.

Gleichzeitig betritt der Nationalstaat die Bühne der Geschichte, der nun sowohl jene Aufgaben übernimmt, die nach dieser Loslösung nicht mehr durch die Dorfgemeinschaft getragen würden, als auch als ein neuartiges Identifikationsgefäss diene. Hier wird zum ersten Mal auch explizit auf die unterschiedlichen Erfahrungen mit der Nationalstaatsbildung in West- und Ostmitteleuropa eingegangen. Der westliche, auf (imperialer) Hochkultur basierende Einingungsnationalismus unterscheidet sich fundamental von der „Habsburgform“ des östlicheren Europas.

Es folgt eine Diskussion anthropologischer Aspekte. Aufgebaut wird hier auf der Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft, wie sie von Ferdinand Tönnies vorgenommen worden ist. Ausgehend von einer Kritik Helmuth Plessners am „affektgeladenen Missbrauch“ von Tönnies Ideen werden die problematischen Aspekte der Gemeinschaft diskutiert: Die interne Entmenschlichung und angestrebte Verschmelzung der Individuen, die in Deutschland zur national-völkischen Volksgemeinschaft ausgeartet ist. Demgegenüber steht die zweckrationale Gesellschaft, in der sich die Individuen als einander fremde Rollenträger begegnen. Diese Gesellschaft, die dezidiert keine Gemeinschaft ist, erscheint für Haller sowohl als das Ideal der europäischen Verständigung als auch als Ursache für den nationalistischen Fundamentalwiderstand einer Rechten, die sich nach Auflösung des Individuums in der Gemeinschaft sehnt.

Es ist nun dieses Individuum, welches nicht in der Gemeinschaft aufgeht, das in seiner Doppelfunktion als Markbürger*in und Citoyen*ne die europäische Integration prägt. Das gegenseitige Fremdbleiben, sowohl aufzwischenmenschlicher als auch auf zwischenstaatlicher Ebene ist für das Funktionieren dieser europäischen Gesellschaft essenziell. Für Gret Haller ist es deshalb weder wahrscheinlich noch wünschenswert, dass ein europäisches Volk mit einer europäischen Kultur entsteht. Die unterschiedlichen politischen, institutionellen und juristischen Kulturen sind notwendige Bedingungen für das geeinte Europa. Das Individuum, das als Marktbürger*in auf dem europäischen Markt agiert, sich somit in Europa integriert und dessen politisch-institutionellen Rahmen gleichzeitig als Citoyen*ne mitgestaltet, indem es am politischen Prozess teilnimmt oder sein Recht, sogar gegen den „eigenen“ Nationalstaat einklagt, ist das konstituierende und dynamische Element der europäischen Integration. Es treibt diese voran und gestaltet sie. Es sind für Haller einzelne „europaoffene Individuen“, die eine europäische „Kultur der Übersetzung“ gestalten. Hiermit wird die Unionsbürgerschaft in eine historische Linie und auf eine Stufe mit der französischen Revolution gesetzt: Die Unionsbürgerschaft als zweiter grosser Individualisierungsschritt.

Auch auf zwischenstaatlicher Ebene bleibt für Haller aber eine bleibende Fremdheit unerlässlich. Die weiterhin bestehenden unterschiedlichen politischen Kulturen – besonders prononciert hervortretend in der deutsch-französischen Beziehung – sind essenziell für die Konstituierung der europäischen politischen Kultur. Eine besondere Wichtigkeit kommt hierbei der unterschiedlichen Konzeption des Verhältnisses von Staat und Nation in West- und Ostmitteleuropa zu. In Westeuropa haben sich Staat und Nation miteinander verbunden. In Ost und Ostmitteleuropa wird die Nation als unabhängig vom Staat existierend gesehen. Haller sieht die ost(mittel)europäische Perspektive als Chance für Europa. Ist sie doch besser vorbereitet auf eine Vorstellung vom Recht und der Politik, die sich von der Nation abgelöst hat.

Sie schliesst mit einer Zukunftsperspektive in einer neuen multipolaren Welt mit den Polen, USA und China. Europa müsse seinen eigenen Weg beschreiten, für den es keine Vorbilder gibt. Da für Haller, wie sie bereits in ihrem Buch Die Grenzen der Solidarität dargelegt hat, fundamentale Unterschiede zwischen den USA und Europa bestehen, ist das Andocken an den transatlantischen Pol für Haller nicht zwingend wünschenswert.

Für Haller ist die Europäische Union kein Superstaat und wird dies auch nie sein. Ebenso ist die Union kein kosmopolitisches Projekt. Der territorial bedingte demokratische Anspruch hebt es von anderen völkerrechtlichen Zusammenschlüssen ab. Europarecht ist demokratisierbar, das Völkerrecht – zumindest nach Haller – nicht. Die Union ist etwas vollkommen Neuartiges – zum Glück! – ein transnationales Gemeinwesen. Die nötigen Bindungskräfte werde es nicht selbst aufbringen können, sondern immer aus den Nationalstaaten beziehen. Deshalb müsse Dichotomie „Mehr Europa“ oder „Weniger Europa“ überwunden werden. Die Debatte darf sich nicht auf Bewegungen auf der eindimensionalen Achse, welche von Bundesstaat und Staatenbund aufgespannt wird, beschränken. Es gibt noch keine Vorbilder für das transnationale Gemeinwesen EU, das weiterentwickelt werden soll.

Es ist eine Freude Gret Hallers Denken zu folgen. Durch messerscharfe Definitionen findet sie zu zwingend scheinenden Schlüssen. So manches Missverständnis – manches politisch bedeutsam – wird so aufgeklärt. Ein Beispiel hierfür ist das Missverständnis, dass es sich beim europäischen Projekt nicht um ein regionalistisches, sondern um ein kosmopolitisches Projekt handelt. Ein Buch und ein begleitender Artikel im Guardian von Hans Kundnani (2023a, 2023b) haben im vergangenen Jahr offengelegt, dass dieses Denken im Vereinigten Königreich unter Proeuropäer*innen anscheinend weit verbreitet war. Als „eurozentrischen Fehlschluss“ bezeichnet Kundnani den Glauben, dem er selbst bis zum Brexit angehangen habe, dass die Europäische Union eine „expression of cosmopolitanism […] diversity, inclusion and openness“ sei, die dem Nationalismus diametral entgegenstehe. Auch auf der politischen Rechten wird dieses Phantasma oft bedient. Dass es sich hierbei um eine Karikatur handelt, ist nach der Lektüre von Hallers Buch einleuchtend.

Mit der Einsicht, dass die Europäische Union nicht die Totengräberin und Radikalopposition des europäischen Nationalstaates ist, reiht sich Haller in einen bestehenden Diskurs ein. Insbesondere Alan S. Milwards (1992) The European Rescue of the Nation State ist hier zu nennen. Für Milward ist der europäische Einigungsprozess keineswegs das Ende der europäischen Nationalstaaten. Auch für ihn wird die EU nie zu einem Superstaat werden. Ganz im Gegenteil, der europäische Einigungsprozess war, wie der Titel bereits impliziert, die Rettung des europäischen Nationalstaates – eines Konzepts, das in der Zwischenkriegszeit, als von 26 Nationalstaaten 20 entweder besetzt, aufgespalten oder zu Satellitenstaaten degradiert wurden, beinahe den totalen Kollaps erlitten hatte. Die treibende Kraft hinter dieser Entwicklung ist für Milward aber im Gegensatz zu Haller die materielle Notwendigkeit in einer sich modernisierenden Weltwirtschaft.

Kommen Milward und Haller unterschiedliche „Rationalitäten“ anwendend am Ende zu ähnlichen Schlüssen? Während der Ökonom Milward materialistisch die normative Kraft des Faktischen, die zwingende Überzeugungskraft der materiellen Verhältnisseam Werk sieht, ist für die Juristin Haller idealistisch die normative Kraft von Ideen ebenso wirkmächtig in der Geschichte der europäischen Union. Beide vermeiden sie aber den Fehlschluss von Kundnani.

Im Gegensatz zu Milward sind in Hallers Argumentation die materiellen wirtschaftlichen Realitäten wenig relevant. Dies führt mich zu meinem einzigen Kritikpunkt an Hallers neuem Buch. Die Kraft, die den scharfen Definitionen und Periodisierungen innewohnt, die Haller vorbringt, wurde bereits beschrieben. Die Frage, die aber aufgeworfen wird, ist jene inwieweit das präzise juristische Vokabular geeignet dazu ist, die – ökonomische, historische – Realität in ihrer Ambivalenz und Ambiguität zu erfassen. Inwiefern stehen die Beharrungskräfte der materiellen Realität der Argumentation im Weg? Wenn Normen, Ideale und Realität auseinanderklaffen, kann dies für Hallers Argumentation ein Problem darstellen. Ich möchte dies anhand dreier Beispiele illustrieren: dem Ideal der autonom agierenden Marktbürger*in, der Französischen Revolution, und der darauffolgenden Nationalstaatsbildungen.

Es ist sehr begrüssenswert, dass Haller explizit auf die unterschiedlichen Erfahrungen West- und Ostmitteleuropas eingeht. Verlautbarungen ost- und mitteleuropäischer Staatschefs gleichen oft Doppelbotschaften – verständlicherweise will man als normaler europäischer Staat wahrgenommen werden, zeitgleich aber in der von Westeuropa abweichenden historischen Erfahrungen und den daraus resultierenden Bedürfnissen ernst genommen werden. Haller gelingt es meisterhaft, dem entgegenzukommen und Ostmitteleuropa in seiner konkreten historischen Erfahrung ernst zu nehmen und gar Lehren für Westeuropa daraus zu ziehen.

Was jedoch ignoriert wird, sind die drastisch unterschiedlichen materiellen Bedingungen in West- und Ostmitteleuropa. Dies hat Auswirkungen auf Hallers Überlegungen zur Rolle des Individuums im europäischen Einigungsprozess. Die von Haller beschriebene Stärkung der Identifikation mit dem europäischen Projekt, welche die Citoyen*ne als Marktbürger*in erfährt, steht Westeuropäer*innen, die Europa meist als Konsument*innen erleben eher oder in ganz anderer Weise offen als den osteuropäischen Individuen, beispielsweise Arbeitskräften aus Bulgarien oder Rumänien, deren Erfahrung als Marktbürger*in kaum derjenigen ihrer nordwestlichen Mitbürger*innen gleicht.

Dies hat Konsequenzen für deren Kapazitäten als Marktbürger*innen auftreten zu können, auch aber für die gefühlte Unionsbürgerschaft. In ihrem Buch Café Europa Revisited schafft es die kroatische Intellektuelle Slavenka Drakulić (2021) dies anhand des Beispiels des berüchtigten Nutella Gipfels auf den Punkt zu bringen. Ostmitteleuropäer*innen hatten sich darüber echauffiert, von westeuropäischen Nahrungsmittelproduzenten als Marktbürger*innen zweiter Klasse behandelt zu werden und mit minderwertiger Ware abgespeist zu werden. Ferrero und Konsorten beteuerten, die veränderten Rezepturen seien lediglich an lokale Geschmäcker angepasst worden. Es ist aber natürlich der Fall, dass die in Westeuropa übliche Rezeptur – beispielsweise des Haselnussaufstrichs, der zum Stein des Anstosses geworden ist – in Osteuropa aufgrund der Materialkosten unerschwinglich wäre. Die Änderung der Rezeptur ist also ein Zuckerguss, der die tatsächlich bestehenden ökonomischen Ungleichheiten nur unzureichend kaschieren kann. Der von Haller beschriebene Prozess der gemeinsamen Gestaltung Europas durch einander fremde Individuen ist nicht nur darauf angewiesen, dass sich diese Individuen fremd bleiben, sondern auch darauf, dass sich diese auf – auch ökonomischer – Augenhöhe begegnen.

Theoretische bestehende Rechte, negative Freiheiten, können also nur vollumfänglich wahrgenommen werden, wenn auch die notwendige positive ökonomische Freiheit gegeben ist. Ein ähnliches Bild ergibt sich bei näherer Betrachtung der Französischen Revolution.

Wie erwähnt, sieht Haller eine Parallele von der Unionsbürgerschaft zur Französischen Revolution. Letztere war ein erster Schritt zur Individualisierung, dem nun ein zweiter auf europäischer Ebene folgt. Die Individuen hätten durch die Französische Revolution die Möglichkeit bekommen sich von ihrer vorbestimmten Herkunft zu lösen. Doch war dies tatsächlich der Fall? Die Revolution, zweifelsohne ein radikaler Bruch in der europäischen Geistesgeschichte, änderte wenig an den Besitzverhältnissen und der ökonomischen Struktur Frankreichs (Cobban, 1964; Blaufarb, 2016; Piketty, 2020). Über die Jahre stellte sich heraus, dass die ökonomische Ungleichheit nicht wie Condorcet – und mit ihm ein Grossteil der aufgeklärten Eliten – angenommen hatte, durch die nun abgeschafften Privilegien künstlich aufrechterhalten worden war, sondern dass sie weitaus stabiler war und in den kommenden circa hundert Jahren stetig zunahm. Das Individuum wurde nun nicht mehr durch die Unausweichlichkeit des Standes von der Loslösung von der vorbestimmten Herkunft gehindert, sondern von den weiterhin bestehenden und nicht weniger unausweichlichen ökonomischen Verhältnissen.

Für Haller ist der Nationalstaat aus der Französischen Revolution entstanden und hat sich schliesslich von Europa über den gesamten Globus ausgebreitet. Abgesehen davon, dass die historische und rechtswissenschaftliche Debatte darüber wann und wo der Nationalstaat entstanden ist und wie er sich über den Globus ausgebreitet hat sehr kontrovers geführt wird, lässt sich fragen, on Haller nicht zu pessimistisch – oder aus ihrer Perspektive zu optimistisch – ist in Bezug auf ihre Prognose, dass eine europäische kulturelle Identität nie entstehen wird. Ist Haller eventuell voreilig mit der Schlussfolgerung, dass sich die Herausbildung von imagined communities (Anderson, 2016), die sich auf nationaler Ebene in den letzten beiden Jahrhunderten in allen europäischen Mitgliedstaaten vollzogen haben auf der europäischen Ebene nicht vollziehen wird?

Ich sehe keinen fundamentalen Unterschied zwischen dem Unterfangen aus einer regional verwurzelten, nicht national integrierten Landbevölkerung, die von einer kulturellen und sprachlichen Vielfalt geprägt war, ein Nationalvolk mit „einheitlicher“ Sprache und Kultur zu machen, wie es beispielsweise in Webers (1976) berühmter Studie Peasants into Frenchmen beschrieben wird, zum heutigen Europa. Hielten doch die Sizilianer*innen die einfallenden Truppen Garibaldis zuerst für Engländer, da sie deren Sprache nicht verstehen konnten (Hobsbawm, 2021). Wer sich die Vielfalt an vorrevolutionären Rechtsnormen in Frankreich ansieht, vom Heiligen Römischen Reich und seinen Nachfolgegebilden ganz zu schweigen, ist sich ebenso im Klaren, dass vor der Ära der Nationalstaatsbildung eine mindestens so grosse Vielfalt an politischen Kulturen innerhalb der späteren Staaten bestand, wie dies nun in Europa der Fall ist. Für Haller ist die Identifikation mit dem europäischen Projekt, die durch die Teilhabe als Marktbürger*in zustande kommt, ein Elitenphänomen. Dass aber auch die Konstitution der nationalen Kulturen ein Elitenphänomen war, macht beispielsweise Miroslav Hroch (2015), einer der führenden Historiker der europäischen Nationalbewegungen deutlich. Haller hat (teilweise) recht, wenn sie konstatiert, dass es eine europäische Kultur nicht gibt.[1] Darin unterscheidet sie sich aber nicht von der nationalen Kultur, die es ebenso bis vor Kurzem nicht gab. Traditionen und kulturelle Muster sind, sofern es sich nicht um invented traditions des 18., 19. und 20. Jahrhunderts handelt, nahezu ausschliesslich entweder regional oder transnational und in den allerwenigsten Fällen national oder europäisch.

Es bleibt also abzuwarten ob nicht doch zunehmend eine europäische Identität entstehen und die Fremdheit immer mehr abnehmen wird – zumindest auf der Ebene jener Eliten, die sich als Marktbürger*in Europa einbringen können.

Die Frage, ob dies wünschenswert ist, ist tatsächlich interessant. Ich stimme mit Gret Haller nämlich dahingehend überein, dass Europa tatsächlich Gesellschaft bleiben muss und nicht zur Gemeinschaft verschmelzen darf. Sehr produktiv ist deshalb, dass Haller die Konzepte von Tönnies/Plessner wieder in den Diskurs einbringt. Diese illustrieren eventuell auch eine Spaltung in der politischen Kultur auf der linken Seite des politischen Spektrums, die sich zwischen deutschem und englischem Sprachraum öffnet. Während im deutschen Sprachraum die von Plessner illustrierte Abwehrhaltung gegen die Verschmelzung zur Gemeinschaft und dem damit verbundenen (völkischen) Nationalismus, der zu stark an die deutsche Ursünde erinnert, dominiert, besteht im englischen Sprachraum links der Mitte weniger Berührungsangst mit diesem Gemeinschaftsnationalismus – waren es doch derartige Befreiungsnationalismen, die der britischen Ursünde des Kolonialismus entgegengetreten waren.

Hallers Buch ist ein sorgfältig durchdachter und innovativer Debattenbeitrag, von dem nicht nur der Europadiskurs in der Schweiz sehr profitiert. Die Leser*in verbleibt mit dem – in der Schweiz durch mangelnde unionsbürgerliche Rechte getrübten – Wunsch an diesem neuartigen politischen Gebilde mitgestalten zu können. Es bleibt zu hoffen, dass gerade in der Schweiz sich mehr Leute von diesem Gefühl inspirieren lassen werden. Dem grossartigen und sorgfältig durchdachten Buch ist deshalb eine breite Leserschaft zu wünschen.

Wrocław/Breslau den 1. August 2024


[1] Natürlich gibt es eine europäische Kultur die aus den gemeinsamen mittelalterlichen Wurzeln der heutigen Nationalstaaten im lateinischen und byzantinischen Europa erwächst. Es ist die europäische Kultur, deren Ursprung im hochmittelalterlichen Landesausbau, im Magdeburgischen und Lübischen Recht etc. liegt. Manche ziehen diese Traditionslinien sogar weiter bis zum Römischen Reich. Die nationalstaatliche Parenthese sei nur eine kurzzeitige Abweichung von dieser Norm. Dieser Idee von europäischer Kultur steht aber insbesondere Milward sehr ablehnend gegenüber. Sei diese Rhetorik doch blosses Mittel zum Zweck des Machterhalts einer Elite die sich vor allem durch die Kenntnis toter Sprachen auszeichne. Eine Diagnose die für das Vereinigte Königreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eventuell zutreffend ist.

Noah Sutter ist Co-Präsident der SP EU Plattform. Zurzeit arbeitet er an der London School of Economics and Political Science (LSE), an jener Fakultät an der auch der zitierte Alan S. Milward aktiv war, an seiner Doktorarbeit zu den ökonomischen Auswirkungen der Französischen Revolution.


Bibliografie

Anderson, B. (2016). Imagined Communities: Reflections on the Origins and Spread of Nationalism. Verso, London.

Badiou, A. (2016). Deutschland – Frankreich. In S. Bromberg, B. Mühlhof, & D. Scholz (Eds.), Euro Trash. (pp. 121-134). Merve, Berlin.

Blaufarb, R. (2016). The great demarcation: the French revolution and the invention of modern property. Oxford University Press, Oxford.

Cobban, A. (1964). The social interpretation of the French Revolution. Cambridge university press, Cambridge.

Drakulić, S. (2021). Café Europa Revisited. Penguin, London.

Haller, G. (2012). Die Grenzen der Solidarität. Aufbau, Berlin.

Haller, G. (2024). Europas eigener Weg, Politische Kultur in der Europäischen Union. Rotpunktverlag, Zürich.

Hobsbawm, E. (2021). On Nationalism. Hachette, London.

Hroch, M. (2015). European Nations: Explaining Their Formation. Verso, London.

Kundnani, H. (2023a). Eurowhiteness, Culture Empire and Race in the European Project. Hurst, London.

Kundnani, H. (2023b, August 17). ‘The Eurocentric fallacy’: the myths that underpin European identity. The Guardian. https://www.theguardian.com/world/2023/aug/17/the-eurocentric-fallacy-the-myths-that-underpin-european-identity

Milward, A.S. (1992). The European Rescue of the Nation-State. Routledge, London.

Piketty, T. (2020). Capital and ideology. Harvard University Press, Cambridge MA.

Weber, E. (1976). Peasants into Frenchmen, the Modernization of Rural France, 1870-1914. Stanford University Press, Redwood City CA.

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