von Nina Schläfli, Nationalrätin
Die meiste Zeit meines bisherigen Lebens wohnte ich mehr oder weniger einen Kilometer von der Grenze zu Deutschland entfernt, in der sechstgrössten Stadt der Schweiz: Kreuzlingen-Konstanz. Während ich in der Schweiz wohnte und arbeitete, habe ich in Deutschland studiert, Party gemacht und meinen Mann kennengelernt. Die Landesgrenze habe ich ohne gross nachzudenken übertreten, in drei Jahrzehnten wurde ich etwa zweimal von Grenzbeamten kontrolliert (ein Privileg von weissen, jungen Frauen!).
Diese Selbstverständlichkeit trübte sich 2020 schlagartig ein: Nie wurde uns so deutlich vor Augen geführt, dass wir an einer EU-Aussengrenze leben wie während der Corona-Pandemie. Die Bilder des skurrilen Doppelzaunes an der Kunstgrenze zwischen Kreuzlingen und Konstanz gingen um die Welt. Die praktischen Konsequenzen waren zum Teil unerträglich: Elternteile konnten ihre Kinder nicht mehr sehen, Betagte konnten von ihren Angehörigen nicht mehr gepflegt werden, unverheiratete Paare mussten auf Zweisamkeit verzichten – sofern sich ihre Lebensmodelle über die Grenzen erstreckten. Die symbolischen Konsequenzen sind nachhaltig: Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, dann immer auch mit dem unguten Gefühl, dass das wieder passieren könnte.
In kantonalen und nationalen Diskussionen über das Verhältnis zu unseren Nachbarländern sprechen wir häufig über Einkaufstourismus, Steuerfragen, Verkehrsfragen, Lohn-Dumping oder Fachkräftemangel und haben die Grenzsituationen von Basel oder Genf im Kopf, viel seltener dagegen die verbreitetste Art der Grenze: die grüne Grenze und kleinere bis mittelgrosse Ortschaften, die über Jahrhunderte von ihrem Dasein an der Grenze geprägt sind oder deswegen überhaupt entstanden sind.
Wenn wir über das Verhältnis zur EU sprechen, über systematische Grenzkontrollen, über die Bilateralen III, aber auch über andere europäische Abkommen und Verträge wie Schengen-Dublin, dann sollten wir nicht nur wichtige wirtschaftliche oder migrationspolitische Argumente im Kopf haben, sondern auch daran denken, dass entlang der Grenzen zahlreiche Lebensrealitäten existieren, die auf eine offene Grenze und ein gutes Verhältnis zu unseren Nachbarländern angewiesen sind und dass tausende Menschen ihren Alltag viel europäischer gestalten, als den meisten Binnenschweizer:innen bewusst ist.