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Neue Perspektiven in der EU?

von Gret Haller, Mitglied der SP-EU-Plattform

Im Dezember letzten Jahres hat der Europäische Rat, bestehend aus den Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten, die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit einer ganzen Reihe von Staaten beschlossen. Im Vordergrund stehen die Ukraine, Moldawien sowie Georgien, einbezogen sind aber auch die Staaten des Westbalkans, Albanien, Bosnien und Herzegovina, Kosovo, Nordmazedonien, Montenegro und Serbien. Nach einem Beitritt aller dieser Staaten wäre die heutige Zahl von 27 Mitgliedstaaten auf 36 angewachsen.

Die Beweggründe für diese Entscheidung sind klar: Es ist eine Reaktion auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine. Neben der militärischen Unterstützung des angegriffenen Landes wollte man die Ukraine nicht länger auf eine Beitrittsperspektive warten lassen. Die Einbeziehung von Moldawien und Georgien ist auf die für diese Staaten ebenfalls bestehende Bedrohung durch Russland zurückzuführen. Angesichts dieser neuen Situation konnte der Umstand nicht mehr ausgeblendet werden, dass die Staaten des Westbalkans schon viel länger auf eine konkrete Beitrittsperspektive warten. Auch wenn diese Beweggründe weithin gewürdigt werden, hat der Beschluss des Europäischen Rates massive Kritik hervorgerufen, dahingehend, die EU habe sich mit diesem Plan völlig übernommen und könnte an dem Vorhaben schliesslich zerfallen.

Vertiefung oder Erweiterung?

Vor einer nächsten Erweiterung müsse die institutionelle Struktur der Union konsolidiert werden, wird argumentiert. Die alte Fragestellung «Vertiefung oder Erweiterung» hat mit der Entscheidung des Europäischen Rates vom Dezember 2023 eine neue Aktualität erreicht. Zwar spricht der Beschluss ausdrücklich von einer parallelen Inangriffnahme der beiden Zielsetzungen. «Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube», entgegnen die Kritikerinnen und Kritiker, am prägnantesten die frühere französische Abgeordnete im Europäischen Parlament Sylvie Goulard. Ihr engagiertes Plädoyer gegen eine zu frühe Erweiterung trägt den Titel «L› Europe enfla si bien qu’elle creva», frei übersetzt «Der Frosch blähte sich so sehr auf, dass er zerplatzte». Die bildhafte Formel ist der Fabel von Jean de La Fontaine «Der Frosch und der Ochse» entnommen, in der ein Frosch so gross wie der Ochse werden will.[1]

In diesem Zusammenhang ist es hilfreich, auf zwei Publikationen hinzuweisen, die zeitgleich im Herbst 2023 erschienen sind. Der Bericht einer deutsch-französischen Arbeitsgruppe von zwölf Sachverständigen wurde im Auftrag der Europa-Staatssekretärin Frankreichs und der deutschen Europa-Staatsministerin zur Reform der EU erarbeitet. Er trägt den Titel «Unterwegs auf hoher See: Die EU für das 21. Jahrhundert reformieren und erweitern». Die je sechs Sachverständigen aus Frankreich und Deutschland bezeichnen sich als «Gruppe der Zwölf».[2] Die andere Publikation wurde von Christian Calliess verfasst, Professor für öffentliches Recht und Europarecht an der Freien Universität in Berlin, der von 2015 bis 2018 als Rechtsberater des damaligen EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker wirkte, unter anderem zu der Frage der Reform der EU. Sein Aufsatz trägt den Titel «Erweiterung und Reform der Europäischen Union».[3]

Beide Publikationen beleuchten die Weiterentwicklung der EU unter dem Aspekt, wie die Verträge, welche die Rechtsgrundlage der Union bilden, verändert und erneuert werden könnten. Aber beide ziehen übereinstimmend in Betracht, dass solche Vertragsänderungen zur Zeit mit grössten Schwierigkeiten verbunden wären, da die Parlamente von 27 Mitgliedstaaten – und in einigen wären Referenden nötig, unter Umständen sogar die Zustimmung von regionalen Parlamenten[4] – die Revision der Verträge genehmigen müssten. Deshalb untersuchen beide Publikationen auch, was ohne Vertragsänderungen schon unter der heutigen Rechtslage an Reformen möglich wäre.

Aus den vielfältigen institutionellen Vorschlägen beider Publikationen werden hier nur jene herausgegriffen, die sich konkret auf die Modalitäten der «Erweiterung» beziehen, und wie diese eine «Vertiefung» dennoch nicht verunmöglichen müssten.

Die zwei Berichte zur Reform und zur Erweiterung

Der Bericht der Zwölf skizziert die Entwicklung der Union als ein Vier-Kreise-Modell.

  • Ein innerster Kreis ist enger als die heutige Mitgliedschaft der Union und umfasst Staaten, die sich in einer vertieften Integration zusammenschließen. Diese interne Differenzierung ist in den Verträgen bereits heute vorgesehen und hat sich zum Beispiel in der Währungsunion konkretisiert.
  • Dem zweiten Kreis gehören die EU- Mitgliedstaaten an, er ist also identisch mit der heutigen Europäischen Union.
  • Ein dritter Kreis ermöglicht eine externe Differenzierung und damit die Teilnahme assoziierter Mitglieder nur am Binnenmarkt.
  • Der vierte Kreis schließlich könnte sich aus der Europäischen Politischen Gemeinschaft herausbilden, die vom französischen Präsidenten 2022 ins Leben gerufen wurde. Sie umfasst alle europäischen Staaten, die mit der EU politisch zusammenarbeiten möchten, EU-Recht aber nicht zwingend übernehmen müssen.

Die Publikation von Christian Calliess geht von den selben Voraussetzungen aus, stellt aber der politischen Vollintegration eines beitrittswilligen Staates ein Modell gegenüber, das auf dem ökonomischen Minimalkonsens in der EU, also dem Binnenmarkt beruht. Zu diesem Minimalkonsens gehören auch die den Binnenmarkt begleitenden ordnungspolitisch flankierenden Politiken wie Handel, Umwelt- und Verbraucherschutz. Konkret schlägt der Autor einen formellen EU-Beitritt beschränkt auf diesen Minimalkonsens vor, also einen Beitritt zum Binnenmarkt ohne die Verpflichtung zur Teilnahme an einer vertieften politischen Integration. Zur Begründung verweist Calliess auf die vergleichsweise politisch wenig sensiblen Politikbereiche, um die es dabei gehe. Und das treibende Motiv für eine Mitgliedschaft in der EU sei nach wie vor ohnehin die Teilnahme am Binnenmarkt, einschliesslich der über die Strukturfonds finanzierte Kohäsionspolitik. Wenn man neue Mitgliedstaaten von der Pflicht zur Teilnahme an der weitergehenden politischen Integration freistelle, könne man viele Konflikte der EU entschärfen, die primär um die Beschränkung der nationalen Souveränität in politischen Fragen ausserhalb des Binnenmarktes kreisen würden.

Binnenmarkt und vertiefte politische Integration

Die über den Binnenmarkt hinausgehende vertiefte politische Integration kann in diesem Konzept von Calliess über sogenannte «Pioniergruppen» von Mitgliedstaaten erreicht werden, wie sie heute schon für den Euro oder als Schengenraum bestehen. Neue Pioniergruppen könnten sich zum Beispiel in einer Verteidigungsunion konstituieren. Die verschiedenen Pioniergruppen bildeten sich gegenseitig überlappende Schnittmengen und stellten «Koalitionen der Willigen und Fähigen» dar; sie stimmten also in ihrer Zusammensetzung aus den verschiedenen Mitgliedstaaten nicht überein.

Die Bildung der Pioniergruppen könnte im Rahmen der verstärkten Zusammenarbeit erfolgen, wie sie in Artikel 20 des Lissabon-Vertrages schon heute vorgesehen ist. Und wenn sich die dafür notwendige Zustimmung durch den Ministerrat nicht erreichen liesse, wäre sogar ein rein intergouvernementaler, also völkerrechtlicher Vertragsschluss denkbar.

Die Pioniergruppen würden allen Mitgliedstaaten offen stehen, also auch denjenigen, deren formeller Beitritt sich zunächst einmal auf den ökonomischen Minimalkonsens der EU beschränkt hat. Für die bisherigen Mitgliedstaaten würde sich aufgrund dieser neuen Konstellation an ihrer Integrationsdichte nichts ausser der Form ändern: Für die vertiefte politische Integration, die über den Binnenmarkt im Sinne des ökonomischen Minimalkonsenses hinausgeht, müssten Grundlagenverträge für die verschiedenen Pioniergruppen abgeschlossen werden. Neue Institutionen müssen dazu nicht geschaffen werden, denn die bestehenden Institutionen könnten schnittmengenartig genutzt werden, indem stimmberechtig zur Tätigkeit der Pioniergruppen nur die Vertreterinnen und Vertreter jener Mitgliedstaaten wären, die der Pioniergruppe angehören.

Aber wenn die Sache funktionieren soll, müssen solche Grundlagenverträge Kautelen enthalten, von denen hier nur einige erwähnt werden sollen: Qualifizierte Mehrheitsentscheidungen, ein eigener Haushalt der Pioniergruppe und vor allem eine Austritts- und Ausschlussklausel: Es soll keinem Mitgliedstaat möglich sein, sich dauerhaft querzustellen. Das Verlassen der Pioniergruppe hätte indessen keinen Ausschluss aus der EU zur Folge, sondern lediglich eine Wiederbeschränkung auf den ökonomischen Minimalkonsens der EU, also auf den Binnenmarkt inklusive die begleitenden ordnungspolitisch flankierenden Politiken. So gingen Pioniergruppen mit dem Ziel vertiefter Integration voran, was wiederum andere Mitgliedstaaten zum Gruppenbeitritt motivieren könnte.

Perspektivenwechsel zur Freiwilligkeit

Im Unterschied zur «Gruppe der Zwölf», die sich enger an die heutigen Gegebenheiten hält, nimmt Calliess also gewissermassen einen Perspektivenwechsel vor. EU-Mitgliedschaft richtet sich nicht mehr nach dem politischen Kriterium der Nähe zur möglichst umfassenden Integration, sondern nach dem Kriterium der wirtschaftlichen Integration in den Binnenmarkt. Das in Artikel 1 des EU-Vertrages niedergelegte Ziel einer «immer engeren Union» soll auf der Basis von Freiwilligkeit erreicht werden. Zieht man die historische Entwicklung der heutigen EU in Betracht, könnte man sogar sagen, die Entwicklung beginne partiell nochmals von vorne, ohne aber das inzwischen Erreichte zu gefährden. Jean Monnet und Robert Schuman, die Urväter der europäischen Integration, setzten zunächst auf wirtschaftliche Integration, allerdings in der Hoffnung, dass sich die politische Integration daraus ergeben würde. Und dies war dann ja auch der Fall, wenn auch stufenartig und mit gelegentlichen Rückschlägen.

Ein Vergleich der beiden erwähnten Publikationen zeigt eine interessante Konsequenz hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit. In ihrer Darstellung der vier konzentrischen Kreise hat die Gruppe der Zwölf um die drei inneren Kreise einen dicken roten Strich gezogen und ihn als «Rechtsstaatlichkeitsgrenze» bezeichnet.[5] Davon ausgenommen sind also nur die Staaten, die der durch Emanuel Macron initiierten Europäischen Politischen Gemeinschaft EPG angehören oder dem, was daraus noch werden könnte. Innerhalb des roten Kreises befinden sich aber auch Staaten, die schon heute mit der EU eine Assoziierung um den Binnenmarkt vereinbart haben und für welche die Gruppe der Zwölf ausdrücklich festhält, dass sie nicht an die Zielsetzung der «immer engeren Union» gebunden seien.

Was Calliess skizziert, sind im Wesentlichen zwei Schritte. Zum einen würde die formelle EU-Mitgliedschaft auch jenen Staaten angeboten, die sich auf die Teilnahme am Binnenmarkt beschränken wollen, mithin allen Staaten innerhalb der «Rechtsstaatlichkeitsgrenze» im Bericht der Zwölf. Und zum anderen würde die Möglichkeit zur vertieften politischen Integration ebenfalls allen Staaten innerhalb dieser Grenze angeboten, und zwar über die Bildung von «Koalitionen von Willigen» im Sinne der beschriebenen Pioniergruppen mit unterschiedlichen Zusammensetzungen der Mitgliedstaaten je nach Zweck.

Und die Schweiz?

Wollte dieses Land nicht schon immer den Einbezug in den europäischen Binnenmarkt, ohne die weiterführenden Politiken mittragen zu müssen? Was würde in einer wie oben skizzierten «neuen Architektur» der EU noch gegen einen EU-Beitritt eingewendet werden können, der genau das längst Gewünschte ermöglicht? Die Pioniergruppe «Schengen» – oder wie immer sie sich dann nennen würde – wäre wohl bereits gesetzt. Und wie würden Diskussionen angesichts einer dannzumal bestehenden Pioniergruppe «Verteidigung» ablaufen?

Auch wenn es bei der heutigen «Architektur» der EU bleibt, muss die Schweiz dieser Organisation so bald als möglich beitreten. Für Schweizerinnen und Schweizer, die nicht über die Doppelbürgerschaft in einem EU-Mitgliedstaat verfügen, ist die heutige Situation zutiefst unwürdig: Sie dürfen nicht demokratisch mitwirken in einer Organisation, die für die Geschicke der Schweiz viel bedeutsamer ist als alles, was in diesem Land noch selber bestimmt werden kann. Und angesichts von Klimawandel, Krieg und neuen geopolitischen Konstellationen wird sich dieses Missverhältnis noch verschärfen.

Dennoch ist es sinnvoll, sich mit den hier beschriebenen Entwicklungsperspektiven der EU auseinanderzusetzen. Es könnte nämlich sein, dass sich der Weg der Schweiz in die EU unversehens auf vielfältigeren Wegen abspielt, vielfältiger als wir Beitrittsbefürworterinnen und -befürworter es meistens vor Augen haben.

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Dieser Text ist erstmals am 28. Juli 2024 auf der Plattform «Journal21» erschienen und wurde für diesen Blog unwesentlich überarbeitet.


[1] Sylvie Goulard, L› Europe enfla si bien qu’elle creva : de 27 à 36 états? Tallandier, Paris, 2024.

[2] Die Gruppe der Zwölf, «Unterwegs auf hoher See: Die EU für das 21. Jahrhundert reformieren und erweitern», 18. September 2023. Der Bericht existiert auf englisch, französisch und deutsch. Deutsch: https://www.auswaertiges-amt.de/blob/2627316/386102116ff34689169fb8df7ef63ec5/230919-deu-fra-bericht-data.pdf

[3] Christian Calliess, «Erweiterung und Reform der Europäischen Union», 19. September 2023, in: Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht EuZW, 17/2023, S.781-788

[4] So wurde 2016 die Zustimmung Belgiens zur Unterzeichnung des EU-Handelsabkommens CETA mit Kanada eine Zeit lang durch das wallonische Regionalparlament blockiert.

[5] Die Gruppe der Zwölf, «Unterwegs auf hoher See», deutsch, S. 48.

» Für die SP ist klar, dass ein gut ausgehandelter EU-Beitritt die beste Option bleibt. «
Mario Carera
Expert en politique de développement
» Weil wir alle grossen Herausforderungen unserer Zeit nur zusammen mit unseren befreundeten Nachbarn meistern können. «
Beat Jans
Bundesrat
» Solidarität ist der zentrale Begriff der Sozialdemokratie. Europäische Solidarität findet ihren konkreten Ausdruck im Staatenverbund der Europäischen Union. Deswegen muss der EU-Beitritt das Ziel der SP-Schweiz sein. «
Jonas Lüscher
Schriftsteller
» Beziehungen zur EU sind nicht nur wirtschaftlich, sondern auch gesellschaftlich. Die grossen Herausforderungen unserer Zeit können wir nur gemeinsam begegnen. «
Sara Wyss
Nationalrätin Basel-Stadt
» Die europäische Integration ist eine riesige Errungenschaft für alle Europäerinnen und Europäer und ein faszinierendes politisches Projekt: für die Freiheit, für den Frieden, für den Wohlstand. Bei diesem Projekt sollte auch die Schweiz mitwirken wollen. «
Jon Pult
Nationalrat Graubünden
» Die europäische Einigung hat unserem Kontinent Frieden, Sicherheit und Wohlstand gebracht. Die Schweiz soll sich daran beteiligen – aus Eigeninteresse und solidarischer Beitrag für die Menschen in Europa. «
Fabian Molina
Nationalrat Zürich